Die Bäume sehen aus der Nähe majestätischer aus. Ich bin so vertieft im nach oben Starren, dass ich über einen Stein stolpere. Fluchend richte ich mich wieder auf. “Perfekte Überleitung!”, bedankt sich Vicky lachend bei mir. “Die Steine sind genau richtig, um euch den ersten Megatrugschluss zu erklären!”, Vicky legt einen ähnlich großen Stein neben den Missetäter und deutet auf die Lücke zwischen den beiden.

West vs. Rest ist von gestern

”Passt auf, wenn von ‘einer Kluft’ zwischen zwei Gruppen gesprochen wird. Die Realität ist oft nicht so eindeutig polarisiert. Tatsächlich befindet sich die Mehrheit oft in der Mitte, wo ‘die Lücke’ sein sollte.

Das beste Beispiel dafür ist die längstüberholte Dichotomie des Westens vs. den Rest der Welt. Die Vorstellung, dass sich unsere Welt wirtschaftlich und politisch in zwei Häflten teilt, hält sich hartnäckig in vielen Köpfen.

Dass dem nicht mehr so ist, lässt sich leicht an Statistiken zeigen”, Vicky zieht ein Tablet aus ihrer Tasche. “Wir können uns zum Beispiel anschauen, wie sich die Anzahl der Kinder pro Frau und die Kindersterblichkeitsrate entwickelt hat. 1965 zeigt sich noch ein zweigeteiltes Bild: In 125 Staaten hatten Frauen im Durchschnitt mehr als 5 Kinder, was unter anderem ein Indikator war, diese Staaten als ‘Entwicklungsland’ einzustufen.1 Heutzutage lassen sich nur noch 13 Länder in diese Kategorie einstufen. Global gesehen haben sich viele Länder in Richtung kleinerer Familien und geringerer Kindersterblichkeitsraten entwickelt. Und obwohl sich die Welt verändert hat, blieb unser Weltbild gleich, zumindest in den Köpfen der ‘Westlichen’.“

Einkommensverteilung der Welt

Eine kritische Stimme aus der Gruppe erhebt sich.“Okay, ich verstehe, dass die Anzahl der Kinder und die Kindersterblichkeitsrate ein Indikator für den Wohlstand eines Landes darstellen kann. Aber so ganz überzeugt mich das nicht, gibt es noch weitere Daten, die das belegen?”

“Ah, sehr gut, es wird hinterfragt! Du hast Recht, Limitationen sind auf jeden Fall vorhanden. Daten zu globaler Entwicklung und Ungleichheit sind generell schwer zu erheben, was dazu führt, dass die Erhebung auf unterschiedliche Weise und teilweise unsystematisch verläuft.

Außerdem gibt es nicht ‘das eine Maß’, durch das wir die Entwicklung eines Landes messen können. Die Realität ist komplizierter und es ist zentral, dass wir ein Thema von mehreren Blickwinkeln aus betrachten. Lasst uns einen Blick auf die Entwicklung der Einkommensverteilung der Länder der Welt werfen.”

Die Berge zeigen die Anzahl der Menschen mit unterschiedlichem Einkommen für das Jahr 1975, gemessen als Haushaltseinkommen pro Person und pro Tag. Die Kurve jedes Landes ergibt sich aus 1. Durchschnitsseinkommen (BIP): Position X-Achse; 2. Gini-Index: Breite der Kurve; 3. Population: Höhe der Kurve

Noch 1975 lässt sich ein Unterschied zwischen Asien (rot), Afrika (blau), Europa (gelb) und den beiden Amerikas (grün) erkennen: Während der Großteil Asiens und Afrikas in extremer Armut lebt (<2$ pro Person und Tag) befinden sich ein Großteil Europas und der Amerikas klar überhalb der Grenze.

2021 allerdings hat sich das Bild gewandelt: nur noch 11% der Menschheit lebt unterhalb der Grenze in extremer Armut im Vergleich zu den 46% noch im Jahr 1975. Statt zwei erkennbaren Bergen wie vor 45 Jahren, lässt sich nur noch ein Berg erkennen. Von einer Zweiteilung kann hier ganz klar nicht mehr gesprochen werden.”

Die Berge zeigen die Anzahl der Menschen mit unterschiedlichem Einkommen für das Jahr 2021, gemessen als Haushaltseinkommen pro Person und pro Tag. Die Kurve jedes Landes ergibt sich aus 1. Durchschnitsseinkommen (BIP): Position X-Achse; 2. Gini-Index: Breite der Kurve; 3. Population: Höhe der Kurve

Faible für Binarität

“Ich glaub wichtig zu sehen ist auch”, meldet sich jemand aus der Gruppe zur Wort, “dass man nicht alle Bürger*innen eines Landes einer Kategorie zuordnen kann. Schaut euch diese Streuung an!”       “Absolut! Es gibt sehr wohl einen großen Abstand zwischen den armen und den reichen Menschen eines Landes – aber die Mehrheit befindet sich in der Mitte”, bestätigt Vicky. “Und was meint ihr: Wieso ist die (falsche) Vorstellung von einer Lücke zwischen dem Westen und dem Rest der Welt so schwer zu verändern?”

“Da spielt sicher vieles mit rein”, überlege ich laut. “Aber wenn wir schon von Instinkten reden: Ich glaube, Menschen lieben es zwei Pole zu erschaffen, wir haben einen starken Instinkt binär zu Denken.”                                                                                                             “Ja”, wird mir zugestimmt, “eine Art zwei-Gruppen-Denken. Wir vs. die Anderen. Die Reichen vs. die Armen. Grauzonen sind zu kompliziert.“

“Tatsächlich”, merke ich an, “würde das auch erklären, warum viele Leute es oft nicht schaffen, bei Datenerfassungen ein drittes Geschlecht anzubieten: Ihr binäres Gehirn droht sonst zu explodieren!” Vicky blickt mich amüsiert an. “Dann wollen wir uns als nächstes mal damit befassen woher dieses binäre Denken kommt”.

Hier gehts zum vorherigen Teil und nächsten Teil (ab 21.02.22 online) der Geschichte.

Quellen:

1 https://www.gapminder.org/topics/fertility-child-mortality/

Rosling H, Rosling O, Rosling Rönnlund A. Factfulness: Ten Reasons We’re Wrong about the World ‐ and Why Things are Better than You Think. London, UK: Hodder Stoughton; 2018.

The Gap Instinct

Income Mountains

Titelbild: „SMP Pride ‚Rainbows'“ von Sam T (samm4mrox) ist lizenziert unter CC BY-NC-ND 2.0 

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