Am 16. April 2020 hat Laurin Blecha, Historiker und Lateinamerikaexperte von der Universität Wien, über Migration und Fremdenfeindlichkeit referiert. Beim Webinar hat er auf Basis einer historischen Perspektive die aktuellen Entwicklungen erklärt und uns zentrale Ergebnisse seiner Forschung vorgestellt.
Ausgangspunkt des Vortrags waren landesweite Proteste in Nicaragua, die 2018 starke Migrationsbewegungen in die Nachbarländer, vor allem Costa Rica, zur Folge hatten.
Was führte zu den Protesten in Nicaragua?
In Nicaragua regiert seit 2006 Daniel Ortega erneut als Präsident, gemeinsam mit der ehemaligen Guerilla-Bewegung, der Frente Sandinista de Liberación Nacional. Die Partei hat es geschafft, seit den 2010-er Jahren mit sozialpolitischen Maßnahmen große Teile der Bevölkerung hinter sich zu bringen. Deren Politik orientiert sich vor allem an der Verbesserung der Lebensumstände der ärmsten Teile der nicaraguanischen Bevölkerung. Die Partei übt starken Einfluss auf Institutionen aus und knüpft oft vorteilhafte Allianzen (beispielsweise mit der katholischen Kirche), um bei den Wahlen erfolgreich zu sein.
Das geschaffene System gerät jedoch zunehmend an demokratiepolitische Grenzen. 2018 kam es zu landesweiten Protesten gegen die Regierung. Blecha verweist auf zwei zentrale Ereignisse. Erstens wurde der Regierung bei einem Waldbrand des Biosphärenreservats Indio Maíz im April 2018 Totalversagen und Untätigkeit vorgeworfen. Zweitens wurde die Reform des Sozialversicherungssystems, die eine Reduzierung der Pensionen um 5% und die Erhöhung der Beitragszahlungen vorsah, von der Regierung in Aussicht gestellt.
Daraufhin kam es zu den seit Jahren größten Protesten gegen die wachsende Korruption und die Misswirtschaft im Land. Diese politischen Unruhen sind Ausgangspunkt der großen Migrationsbewegung in die Nachbarländer.
Costa Ricas Geschichte als ein Ort von Migration
Die Mehrheit der geflüchteten Nicaraguaner*innen suchten in Costa Rica um Asyl an. Dort reagierte die Regierung, wie auch die Bevölkerung, anfänglich mit großer Solidarität.
Dieser Umstand ist mit der Geschichte des Landes zu erklären. Durch die zentrale Lage des Landes war Costa Rica schon immer durch Migration geprägt. Angefangen bei den Wanderbewegungen von Nordamerika Richtung Süden vor über 20.000 Jahren, über die spanische Kolonialzeit im 16. Jahrhundert, bis hin zur Zwangsmigration von Afrikaner*innen im Kontext des transatlantischen Sklavenhandels.
Im 19. Jahrhundert wurden Einwanderungspolitiken von den Regierenden des Landes forciert, damit deren Wirtschaftssystem, das auf Agroexporte (Export von Zucker, Baumwolle und vor allem Kaffee) beruhte, aufrechterhalten werden konnte. Dieses Modell erforderte einen intensiven Einsatz an moderner Technologie und verlangt vor allem eine große Anzahl an (billigen) Arbeitskräften. Es wurde versucht, vor allem Europäer*innen ins Land zu holen. Zum einen brauchte man zusätzliche Arbeitskräfte auf den Plantagen, zum anderen wollte man so auch die costa-ricanische Identität europäischer machen. Europäer*innen waren für das Klima und die Arbeit nicht geeignet und gingen in die Städte. So wurden erst recht wieder auf billige Arbeitskräfte aus der näheren Umgebung (Panama, Jamaika, Nicaragua) zurückgegriffen.
Wirtschaftliche, politische oder soziale Umstände führten seit dem 19. Jahrhundert zu großen Migrationsbewegungen von Nicaragua nach Costa Rica. 2018 kamen offiziell 27.500 Flüchtlinge und Asylwerber*innen ins Land. Die anfängliche Solidarität in Costa Rica wich xenophoben und rassistischen Debatten.
Rechte Bewegungen und stereotype Zuschreibungen
Als Folge der Einwanderung 2018 formieren sich in Costa Rica nationalistische und rechtskonservative Gruppen, die sich vor allem die Sozialen Medien zunutze machten. Ein prominentes Beispiel ist „Recuperemos Costa Rica“ (dt. Holen wir uns Costa Rica zurück), die in dieser Zeit sehr aktiv war. Die Selbstdefinition der Gruppe lautete: „Bewegung gegen die imminente Vernichtung der Heimat“.
Sie arbeitete vor allem mit Stereotypen und kreierte einen Diskurs, der stark auf die Angst der Bevölkerung setzt. So wurde den Nicaraguaner*innen vorgeworfen, Arbeitslosigkeit, Gewalt und Drogenhandel ins Land zu bringen. Zudem wurde viel gegen Homosexuelle und Transgenderrechte politisiert, da in diesem Jahr gleichgeschlechtliche Ehe erlaubt wurde. Von diesen Gruppen wurde eine restriktivere Herangehensweise der Regierung gegen die Immigration nach Costa Rica gefordert.
Fazit
Laurin Blecha hat im Vortrag sehr gut vermittelt, dass Zentralamerika aus historischer Sicht betrachtet schon immer ein Ort der Migration und interkulturellen Begegnung war.
Vor allem Nicaragua ist ein Land, in dem es seit dem 19. Jahrhundert zu großen Migrationsbewegungen, vor allem nach Costa Rica, kam. Die jüngsten Ereignisse haben erneut eine Flüchtlingsbewegung ausgelöst. Rechte Gruppen haben sich formiert und wetterten gegen die Flüchtlinge. Blecha zufolge waren diese rechten Bewegungen dieses Mal nicht stark genug, dass sie den Diskurs wesentlich mitbestimmen konnten, da im Land keine ökonomische Krise geherrscht hatte.
Seine These lautet, wenn es in Costa Rica zu einer wirtschaftlichen Krise kommen sollte, dann könnten diese Argumentationsmuster sehr wirkungsvoll sein, weil sie stark auf einer historischen Gegebenheit aufbauen, die im richtigen Moment wieder aktiviert werden könnte