Mein Aufenthalt in Tansania hat mir Einblicke in eine Kultur ermöglicht, die in starkem Kontrast zu der mir sonst bekannten europäischen Kultur steht. Keine Reise in ein anderes Land erweiterte meinen Horizonten in einem solchen Ausmaß, wie mein erster Aufenthalt in einem afrikanischen Land südlich der Mittelmeerküste.
Am 15. November 2019 machte sich eine Gruppe von Philosophiestudierenden aus Salzburg, begleitet von 6 Lehrenden derselben Fakultät, auf, um mit Philosophiestudierenden eines Colleges in Tansania im Rahmen eines interkulturellen Seminars philosophische Gedanken auszutauschen. Die teilnehmenden Studierenden beider Länder bereiteten jeweils eine Handvoll Texte vor, die an vier intensiven Tagen vorgestellt und diskutiert wurden.

In Dar Es Salam, Tansania, angekommen, wurden wir sogleich von zwei sehr freundlichen, aufgeschlossenen Personen begrüßt, die sich als unser Busfahrer und ein Philosophieprofessor des Colleges herausstellten. Sehr oft durften wir „Karibu“ hören – Suaheli für „willkommen“, begleitet von sehr häufigem Händedrücken in allen möglichen Gesprächssituationen. All meine persönlichen Kontakte mit Tansaniern waren von dieser Willkommenskultur geprägt. Schon diese ersten Stunden in Afrika machten mir klar: Dieser Aufenthalt bietet mir viele neue Aspekte und kulturelle Eindrücke, wie ich sie vorher nicht kannte.
Nach dem Sonntag, der der Eingewöhnung diente (Einfinden in die Kultur, leckere, aber immer die gleichen Speisen, Erkunden der Umgebung, Gedanken an Tse-Tse Fliegen und Malaria, Vorbereitung der Texte…) fanden wir uns am Montag früh im Unterrichtsraum ein, um die ersten Texte zu diskutieren.

Montag und Dienstag präsentierten wir die von uns selektionierten Texte, Donnerstag und Freitag waren die Tansanier dran. Die den Präsentierenden gewidmete Aufmerksamkeit war groß, sehr interessiert hörten alle Teilnehmer den Präsentationen zu. Ähnlich wie im Salzburger Philosophieseminaren folgte eine Diskussion. Mit viel Respekt, vor allem dem Diskussionsleiter gegenüber, wurden spannende Fragen aufgeworfen und diskutiert. Auch nach den Unterrichtseinheiten konnten wir mit unseren Gastgebern am Collegegelände diskutieren, wofür sie immer aufgeschlossen waren, manche klarerweise mehr, manche weniger.
Ein zusammenschweißendes Erlebnis war schließlich der Ausflug zum Mikumi Nationalpark am Mittwoch. In einer gemeinsamen Busfahrt redeten wir viel und erwarteten mit Vorfreude, Affen, Zebras, Löwen, Giraffen, Büffel und Co zu sehen.
Im Mikumi Nationalpark, Foto © Julian Kessler Foto © Julian Kessler
Familie in Tansania
Noch am selben Tag vor dem Nationalpark führte ich eine sehr spannende Konversation, die mir recht tiefe Einblicke in die afrikanische Kultur verschaffte. Ausgehend von der Frage nach Geschlechtergerechtigkeit in Afrika begann ein tansanischer Philosophiestudent zu erzählen, dass vor einigen Jahrzehnten ausschließlich der Mann das Sagen in der Familie hatte. Er hatte für das Einkommen, Verpflegung und Wohlergehen der Familie zu sorgen. Dafür kochte seine Frau und kümmerte sich um die Kindererziehung.
Eine Heirat sollte in relativ jungen Jahren erfolgen. Sie bedeutete aber nicht nur die Liierung zweier Personen, sondern zweier Familien. Somit hatte der verheiratete Mann für die gesamte Familie seiner Frau zu sorgen. Konnte er es sich leisten, stand ihm nichts im Wege, sich mit mehreren Frauen zu liieren, er musste dann aber auch für mehrere Familien sorgen.

Ich erfuhr auch, dass es für Tansanier eine Schande ist, keine Kinder zu haben. Selbst bei nur einem oder zwei Kindern ist man der gesellschaftlichen Achtung ausgesetzt. Woran das liege, fragte ich. Zum einen biete es der Stolz, seine Familie möglichst erfolgreich fortzuführen. Zum anderen erwähnte mein Gesprächspartner Personen aus der Bibel mit vielen Kindern und dann noch die Chinesen, die ja auch so viele wären und daher eine florierende Wirtschaft hätten, das sei nachahmenswert.
Ich frage nach begrenzten Ressourcen und finanziellen Möglichkeiten für die Erziehung von Kindern, doch die Antwort lautete, dass das Leben mit Knappheit, sogar das Leiden, sinnvoll wären, denn daraus entspringe schließlich Kreativität und Überlebensdrang. Besonders eindrucksvoll ist mir die Vehemenz in Erinnerung geblieben, mit der mir diese Ansichten vorgetragen wurden.
Auch in anderen Gelegenheiten stellte ich fest, dass die (religiösen) Überzeugungen felsenfest verankert sind und kritisches Nachfragen und Argumentieren an einer ideologischen Wand abprallen und keine Reflexion zu initiieren vermögen. Erdrückende Gespräche.
Gemeinschaftskultur „Ubuntu“
Am Donnerstag und am Freitag ging es schließlich um Texte, die von unseren Gastgebern im Hinblick darauf, dass sie ihre (Philosophie)Kultur in besonderem Maß repräsentieren, ausgewählt wurden. Schon beim Lesen wurde uns klar, dass es in den Texten weniger um philosophische Fragestellungen oder Argumente in unserem Sinn ging, sondern vielmehr um Kultur, Ideologie und Religion.
Im Wesentlichen drehten sich die Texte um das Gemeinschaftsgefühl, das als „Ubuntu“ bezeichnet wird. Die afrikanische Kultur zeichnet sich durch Gemeinschaften aus, nur auf diesen liegt der Fokus. Das Individuum erfährt nur Bedeutung, da es Teil einer Gemeinschaft ist. „We are, therefore I am“, war ein viel zitierter Spruch.
Das Gemeinschaftsgefühl zeigte sich mir auf eine weitere Art: Städte in Tansania erschienen uns wie riesige Dörfer. Selbst in der Hauptstadt schien das Leben in nebeneinanderliegenden Straßen unabhängig zu sein. Statt eines Stadtzentrums mit spezialisierten Geschäften, wie wir sie z.B. in Europa kennen, gibt es in jeder Straße alles. In Europa könnten Straßenabschnitte abgeschnitten von der Außenwelt kaum überleben, doch jede einzelne Straße, die ich in Tansania sah, könnte das, weil es von Lebensmitteln über Kleidung bis hin zu anderen Artikeln alles gibt, was zum Überleben notwendig ist. In die Gemeinschaft werden alle aufgenommen, die etwas für die Gemeinschaft tun. Jeder kann darauf vertrauen, dass jeder einen Beitrag leistet.
Die Straßen von Dar Es Salaam, Foto © Julian Kessler Der Blick auf die Stadt, Foto © Julian Kessler
Ideologie
Im Laufe der Diskussionen im College gelangten wir unter anderem zu den Themen Religion und Homosexualität. Es gibt einen Allmächtigen, egal, wie man Ihn nennen möge, so die Überzeugung. Außerdem ist alles vom Geist des Lebenden berührt, sogar Steine, doch diese stehen auf der untersten Ebene einer „Lebenshierarchie“, an deren Spitze der Allmächtige steht.
Wie ich erfahren hatte, ist Fortpflanzung und eine große Familie von hoher Wichtigkeit in Tansania. Homosexuelle können nicht zur Fortpflanzung beitragen, sie leisten daher den wichtigsten Beitrag, den jeder, der Teil der Gemeinschaft sein will, zu leisten hat, nicht, und werden deshalb nicht in die Gemeinschaft aufgenommen.
Auf unsere Versuche zu argumentieren, dass auch die Liebe zweier gleichgeschlechtlicher Partner natürlich sein kann, wurde spöttisch, den Kopf schüttelnd gelacht. Wir bemerkten außerdem, dass in dem katholisch geprägten College, durchaus für Konformität mit dem tansanischen Glauben gesorgt wird. Immer wenn es schien, dass die Diskussion zu liberal wurde, ergriff Father John das Wort. Der College Priester mit mächtiger Stimme erinnerte an die Religion, gab ein paar (aus unserer Sicht ungültige) Argumente für Heterosexualität, bis er in den Reihen seiner Studierenden wieder auf zustimmendes Nicken blickte. Gegen diese Ideologien zu argumentieren, war wirkungslos.
Wertvolle Erkenntnisse

Doch genau aus diesen Gegensätzen lernte ich eine wertvolle Erkenntnis, vielleicht eine meiner wertvollsten Erkenntnisse überhaupt, die ich nun in vielerlei Lebenssituationen anzuwenden versuche. Einerseits habe ich beschrieben, wie warm wir willkommen geheißen wurden und wie einfach ein Gesprächseinstieg erfolgte, z.B. über mein Interesse, die Sprache zu lernen. Andererseits liegen wir in so grundsätzlichen Fragen wie Liebe und Religion so weit auseinander. Ich lernte, denselben Menschen aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten. Seine Ansichten außer Betracht zu lassen, sie als Teil seiner Person zu akzeptieren, obwohl sie sich so fundamental von meinen Ansichten unterscheiden, und meine Gesprächspartner stattdessen für andere Qualitäten wertzuschätzen, mit ihnen über andere Themen zu sprechen und so nette Momente mit ihnen zu erleben.
Meine Zeit in Tansania lehrte mich viele neue Eindrücke. Das Ich hinter das Wir zu stellen und dem Gemeinschaftsspirit, wie er im tiefen Afrika gelebt wird, für einige Tage lang angehören zu dürfen, ermöglichte mir viele neue Erfahrungen und erweiterte meinen Horizont definitiv in einem Ausmaß, wie es vorher bei keiner anderen Reise der Fall war.